Dania Schiftan, was ist Ihrer Einschätzung nach die Hauptsorge junger Menschen, wenn es um Sexualität geht?
Bei dieser Frage muss man unterscheiden zwischen Mädchen und Knaben. Junge Männer stehen heutzutage unter einem enormen Leistungsdruck. Sie schauen Pornos, lassen sich von den Medien beeinflussen und haben einen riesigen Katalog im Kopf, der ihnen sagt, wie ein Mann zu sein hat. Zugleich wachsen sie mit dem Bewusstsein auf, dass sie die Wünsche der Mädchen erfüllen und liebevolle Partner sein müssen. Da sie nicht allen Erwartungen gleichzeitig gerecht werden können, fühlen sie sich überfordert. Auch junge Frauen sind verunsichert: Einerseits haben sie ein Interesse an Sexualität, andererseits wirken nach wie vor alte Normen.
Zum Beispiel die Norm, dass eine Frau keine sexuellen Bedürfnisse zeigt?
Ja, sie fragen sich, ob sie lustvoll sein dürfen oder ob sie, wenn sie ihren Bedürfnissen folgen, als Schlampe abgestempelt werden. Hinzu kommt, dass junge Männer im Alter zwischen 15 und 25 Jahren sehr schnell erregbar sind und sofort zur Sache kommen wollen. Frauen hingegen brauchen unvergleichbar länger. Bis eine Frau Erregung spürt, braucht sie ein Vorspiel von mindestens 10 bis 20 Minuten. Und hier setzen sich Mädchen rasch selber unter Druck, weil sie das Gefühl haben, das müsse schneller gehen, mit ihnen stimme etwas nicht.
Sie sprechen den Pornokonsum an. Wie sollen Eltern damit umgehen?
Dass Jugendliche Pornografie konsumieren, ist eine Realität. Pornos werden auf den Handys geteilt, gehören einfach mit dazu und lassen sich kaum verbieten. Ideal ist, wenn die jungen Menschen sich mit ihren Eltern darüber austauschen können. In meiner Praxis mache ich oft die Erfahrung, dass Knaben mit den Infos überfordert sind, die sie in den Filmen vorfinden – etwa wenn unrealistische Sexualpraktiken gezeigt werden, die kaum jemand so lebt. Der Jugendliche fragt sich, ob das von ihm erwartet wird. Und deshalb ist es gut, wenn er solche Fragen zu Hause besprechen kann und seine Eltern ihm helfen, das Gesehene einzuordnen.
Was ist die Herausforderung im Umgang mit Pornografie?
Das Hauptproblem ist die Ausschliesslichkeit. Bei vielen Jugendlichen findet die Selbstbefriedigung nur noch mithilfe pornografischer Inhalte statt, und mit der Zeit erleben sie auch die Erregung nur noch auf diese Weise. Das ist problematisch. In diesen Fällen geht es darum, Erregung durch die eigene Fantasie neu zu lernen, zu üben und somit dem Pornokonsum ein reales Lernen entgegenzuhalten. Das könnte so aussehen: Selbstbefriedigung einmal mit Pornos, zweimal ohne Pornos.
Wissen Jugendliche denn nicht schon alles über Sexualität?
Nein. Sie werfen zwar mit vielen sexuellen Begriffen um sich, aber sehr oft sind diese Ausdrücke hohl, weil die jungen Menschen nicht wissen, was diese Wörter genau bedeuten. Die Verunsicherung und der Aufklärungsbedarf sind heutzutage genauso hoch wie früher. Wenn Jugendliche sich bewusst machen, dass die anderen diesbezüglich auch nicht mehr wissen als sie, vermindert sich der Druck. Junge Menschen sollen und dürfen auch Gleichaltrige fragen können, ohne als unwissend dazustehen.